Abschied von zu hohen Ansprüchen
F.A.Z., 11.04.2020 | Beruf und Chance, Seite C1 | Ursula Kals
Alles hundertprozentig im Griff, volle Leistung erbracht, erstklassige Ergebnisse erzielt! Perfekt zu arbeiten – dieses Ziel haben viele. Jetzt bremst die Corona-Krise sie aus.
Wer 80 Prozent seines Leistungsvermögens abruft und eine gesunde Bereitschaft zur Anstrengung hat, der ist ein guter Arbeitnehmer. Er weiß das aber vielleicht gar nicht. Denn nach wie vor tragen ehrgeizige Menschen ihren Anspruch, bei der Arbeit mindestens 100, besser 120 Prozent zu geben, wie einen Schutzschild vor sich her. Eine schwierige Haltung, gerade jetzt, wo die Stunde der Pragmatiker schlägt und diejenigen zur Hochform auflaufen, die mit Chaos umgehen können. “Nicht alle ehrgeizigen Menschen sind perfektionistisch, und es gibt viele ehrgeizige Perfektionisten – das Spannungsfeld reicht von solchen, die Topleistungen bringen, zu denen, die alles fast zwanghaft hundertprozentig können, wissen und erledigen müssen und nicht auf den Punkt kommen”, sagt Brigitte Scheidt, Karriereberaterin und Psychotherapeutin aus Berlin. “Die Corona-Krise bremst die Perfektionisten aus, die ihren Wert daran messen, dass sie alles möglichst auf allen Gebieten im Griff haben und keine Fehler machen dürfen. Fehler zu machen bedeutet für sie, nicht zu bestehen, und ist meist mit Scham verbunden.” Zumal, so sagt die Fürther Psychologin Sonja Sippel, “sich in einer Krise unsere Eigenschaften noch verschärfen.”
Mit der Pandemie ist das ohnehin trügerische Gefühl, alles unter Kontrolle zu haben, mit einem Schlag vernichtet. Aktuell treibt eine Nachricht die andere vor sich her, und niemand, der einigermaßen seriös agiert, kann uns verbindlich sagen, wie sich die kommenden Monate entwickeln werden. Unter diesem Kontrollverlust leiden alle. Menschen mit perfektionistischem Anspruch und starker Regelorientierung drohen daran zu scheitern. Jetzt sind Improvisation gefragt, Kreativität und unkonventionelle Lösungen. Was gestern Erfolg versprach, kann morgen schon überholt sein – eine Ausgangslage, die für überkorrekte Menschen mental schwierig zu managen ist. Sie möchten Topleistung abliefern, gefühlt rund um die Uhr. Doch wie genau sieht die jetzt aus? Flexibilität und diese Art von Perfektionismus – das sind keine Wesensverwandten. “Aber es gibt durchaus Perfektionisten, die quer- und neu denken können. Denken Sie nur an Loriot, Newton oder Steve Jobs”, sagt Karriereberaterin Brigitte Scheidt.
“Menschen mit übertrieben hohen Ansprüchen neigen zum Schwarzweißdenken. Entweder ist etwas perfekt oder total schlecht”, erklärt Sonja Sippel. “Mich bewegt das Thema, weil es mit selbstgemachtem Stress zu tun hat”, sagt die Gesundheitspsychologin, deren Kurse vorrangig von Stressgeplagten besucht werden. “Diese Menschen sind stark perfektionistisch unterwegs. Sie unterscheiden nicht zwischen wichtig und nicht so wichtig, überprüfen mehrfach, ob ein Ergebnis richtig ist. Das ist nicht effizient. Aber gut ist ihnen nicht gut genug. Sie haben überhöhte Ansprüche an sich selbst. Diese Erwartungen kommen gar nicht von außen, das übersehen Perfektionisten aber oft.”
Heftig und in diesen Zeiten vielfach vorgefallen: In der Belegschaft gibt es einen Infizierten, die anderen kommen sofort in Quarantäne. Die Krise ist unerwartet über uns hereingebrochen. Zeit, sich darauf einzustellen, gab es nicht. Akribisch einen Notfallplan auszuarbeiten oder eine solide Übergabe vorzubereiten, dazu war es zu spät. Perfektionisten sind dafür nicht gut gerüstet, sagt Sonja Sippel: “Sie delegieren nicht gern und sind oft unzufrieden mit Ergebnissen.”
Arbeitswelt, Umstände und Spielregeln sortieren sich neu. Freigeister und Menschen, die es sowieso nicht so genau nehmen, tun sich damit womöglich leichter, weil sie nicht in strengen Mustern agieren. Dass jetzt Kind und Katze im Hintergrund des Homeoffice wuseln, ist kein Problem, sondern eher befreiend. Sie bekommen das hin, dass der Druckeranschluss streikt, arrangieren sich mit dem papierfreien Büro, machen handschriftlich Notizen und Scherze über verwischte Scans. Aber was macht das mit den regelorientierten Perfektionisten? “Es wird vermutlich ihre Besorgtheit steigern, sie strengen sich noch mehr an. Hier ist Führung und Selbstführung gefragt. Es geht um die Erlaubnis, dass angesichts der Umstände nicht alles perfekt sein muss”, sagt Psychologin Scheidt.
“Die innere Freiheit fehlt, für sich selbst einzustehen”
Wer Perfektion hinterherhetzt, verpasst sein Leben und ignoriert das Pareto-Prinzip, benannt nach dem italienischen Ökonomen Vilfredo Federico Pareto: 80 Prozent der Ergebnisse werden bereits mit 20 Prozent des Gesamtaufwandes erzielt. Um die verbleibenden 20 Prozent zu erreichen, bedarf es der restlichen 80 Prozent des Gesamtaufwandes. Das ist manchem verbissenen Berufsanfänger nicht klar, manchem ausgelaugten Älteren aber auch nicht. Wer sich zu Topleistungen berufen fühlt, der zahlt dafür in der Regel einen beträchtlichen Preis. Oder andere bezahlen den für ihn – zum Beispiel die Kinder. Emotionale Verwahrlosung ist auch in Akademikerhaushalten kein unbekanntes Phänomen. Das Hollywood-Klischee vom supererfolgreichen Dad und der Karriere-Mom geht so: Ihr niedliches Kind hat eine winzige Rolle in der Schultheateraufführung ergattert; aber die Eltern schaffen es nicht, pünktlich im Publikum zu sitzen, das Termingeschäft war mal wieder wichtiger als der Sechsjährige. Das ist Tränendrüsendramaturgie, enthält aber mehr als ein Fünkchen Wahrheit: Beides ist schwer vereinbar: den perfekten Arbeitnehmer darzustellen und ein präsenter Vater, eine präsente Mutter zu sein. Die Corona-Krise zwingt dazu, unsere Rollenbilder zu hinterfragen.
Alles hat seinen Preis. Auch die Perfektion. Aber warum scheitern so viele Menschen beim Versuch, das Tempo in ihrem Hamsterrad wenigstens zu drosseln, geschweige denn auszusteigen aus dieser hektischen Tretmühle? “Es gibt viele Ursachen. Zum Beispiel sind viele davon getrieben, es anderen recht und es richtig zu machen und auch im Vergleich mit anderen zu bestehen. Oft spüren sie sich und ihre Bedürfnisse nicht wirklich – und wenn doch, dann fehlt die innere Freiheit, für sich selbst einzustehen”, sagt Brigitte Scheidt.
Man mag die These gar nicht niederschreiben in Anbetracht der Toten, der Insolvenzen, des menschlichen Leids, das über viele hereinbricht. Dennoch stimmt der schwierige Satz: Die Krise ist auch eine Chance. Nämlich eine Chance, sich endlich gezwungenermaßen von dem unerfüllbaren, auf Dauer krank machenden Perfektionismusanspruch loszusagen. Alles geht jetzt eben nicht mehr. Der Schweizer Moderator Stefan Häseli schreibt in einem Beitrag über kluge Krisenkommunikation: “In der chinesischen Kalligrafie beinhaltet das Wort Krise zwei Schriftzeichen: Das eine bedeutet Gefahr, das andere Gelegenheit.” Die Botschaft: In jeder Krise stecke ein “Sowohl-als-auch”. Voraussetzung sei eine gute Vorbereitung auf vermeintlich unvorhersehbare Situationen, sagt der Kommunikationstrainer.
Die Lektion lernen dieser Tage auch sogenannte Eislaufeltern, also jene, die ihren Nachwuchs zu Bestnoten drillen. Hausaufgaben, die die Lehrer ins Schüler-Postfach schicken, nur flankierend zu begleiten reicht diesen Eltern nicht. Sie versuchen sich im Homeschooling, versuchen, den Unterricht zu ersetzen. Eine überarbeitete Ärztin, die abends erschöpft aufs Sofa sinkt, kann das gar nicht leisten. Das mal zum Thema, perfekt sein zu wollen.
“So gut wie möglich, so gut wie nötig. Oft ist gut gut genug.”
In den sozialen Medien hat sich der Anspruch, ein perfektes Bild von sich abzugeben, quasi über Nacht aufgelöst: So viele ungeschminkte Strubbelköpfe sah man noch nie. Jetzt scheint das ein Forum für ungeschönte Fotos zu sein: Ist ja menschlich, dass ein Behördenleiter oder eine Politikerin nach Marathonkrisensitzungen nicht wie aus dem Ei gepellt erscheinen.
Perfektion anzustreben kommt häufig einer Anleitung zum Unglücklichsein bedenklich nahe. Das zeigt ein Blick auf all die musikalischen Wunderkinder. Ihre Musik mag wunderschön sein. Ihr Leben ist es bei weitem nicht immer. Höchstleistungen funktionieren aber nur mit großer Anstrengung, Qualität kommt von Quälen, und das kann durchaus erfüllend sein. Darum sei hier angemerkt: Topleistung auf einem einzigen Gebiet, in der Musik oder im Sport zu erringen, das ist mit perfektionistischem Zwang nicht gemeint. “Sondern die, die überall glänzen, überall perfekt sein wollen. Die Menschen denken oft in Kategorien – besser/ schlechter, schöner/hässlicher. Sie vergleichen viel und machen sich damit unglücklich”, erklärt die Trierer Psychologin Stefanie Stahl.
Niemand mag sich eine Intensivmedizinerin an seinem Krankenbett vorstellen, die Dosierungen Pi mal Daumen anordnet. Oder einen Krankenpfleger, der bei der Hygiene fünfe gerade sein lässt. Doch zwischen schlampiger Arbeit und dem Krampf, immer erstklassiger als erstklassig sein zu wollen, liegt ein breites Feld. “Natürlich erwarten wir von Ärzten und Piloten sehr gute Leistungen. Es geht um die krankhafte Ausprägung, das auf die Spitze zu treiben. Das sind dann Burnout-Kandidaten, und das betrifft vom Manager bis zur Hausfrau alle”, erklärt Gesundheitspsychologin Sonja Sippel. Notärzte betonen: auf jeden Fall Erste Hilfe leisten, lieber etwas Falsches als gar nichts tun und dem Unglücksopfer beistehen. Selbst wenn man sich nur rudimentär an den Herzdruckmassage-Rhythmus erinnert – das geht übrigens zum Beispiel mit den Klängen von “Stayin’ Alive” oder “Atemlos”.
Solch zögerliches Verhalten habe grundsätzlich mit der Fehlerkultur in Deutschland zu tun, vermutet Sonja Sippel. “Ich komme aus Polen, Fehler gehören dazu, um daraus zu lernen, um sich zu entwickeln. Wer nichts macht, der macht auch keine Fehler.” Vorbildlich findet sie Schweden. Dort hat sie im Krankenhaus hospitiert und erlebt, dass Studenten ihre Professoren auf einen Fehler hinweisen, zum Beispiel darauf, sich die Hände einmal zu wenig gewaschen zu haben.
Warum sind Menschen so zwanghaft perfektionistisch, warum haben sie Angst, etwas zu übersehen, und versuchen, sich durch sogenannten “double-check” abzusichern? Sonja Sippel beobachtet: “Es geht um Anerkennung, sie fühlen sich durch das Gefühl von Kontrolle sicherer, erhöhen ihr Selbstwertgefühl.” Betroffene sehen das meist nicht negativ, weil das in der Gesellschaft positiv gesehen werde, getrieben von der Erwartung, beliebt und perfekt zu sein. “Sie wollen eher Tipps bekommen, wie sie es besser machen, ohne die Einstellung zu ändern.”
In ihren Kursen fragt Sonja Sippel dann nach einem typischen Tagesablauf – der ist, wie zu erwarten, viel zu dicht getaktet. Die Psychologin macht dann Kognitionsübungen nach ihrem akademischen Lehrer, dem Psychologieprofessor Gert Kaluza. In Kleingruppen wird überlegt: Warum möchte ich perfekt sein, was spricht dafür, was dagegen? Es geht um Vor- und Nachteile. Sippel formuliert dann provokant extreme Gegensätze: Ich muss immer alles richtig machen. Ich muss nichts richtig machen. Wie könnte eine Haltung sein, die eine Mitte bedeutet? “So gut wie möglich, so gut wie nötig. Ich gebe mein Bestes und achte auf mich. Ich unterscheide zwischen wichtig und unwichtig. Weniger ist manchmal mehr. Oft ist gut gut genug.” Es helfe, die Einstellung zu formulieren, die sie sich wünschen, und sich die Sätze vorzusagen.
Sonja Sippel hat sich noch eine alltagstaugliche Übung überlegt und fragt: “Was wollen Sie perfekt im Haushalt haben? Wenn Sie jede schmutzige Tasse sofort in die Spülmaschine räumen, lassen Sie sie eine Stunde stehen, dann zwei Stunden, dann über Nacht. So verfahren Sie auch mit dem unaufgeräumten Schreibtisch.” Es gehe darum, das Unperfekte auszuhalten, dem Zwang zu widerstehen. “Die Leute lachen zuerst. Dann werden sie nachdenklich.”
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