Berufliche Neuorientierung: Man kann erfolgreich sein – und unglücklich.

Berufliche Neuanfänge: Man kann erfolgreich sein – und unglücklich.

Was zunächst wie ein Widerspruch erscheint, ist in der Realität gar nicht so selten wie Sie vielleicht denken. Dass viele Menschen Unzufriedenheit im Job empfinden, obwohl sie grundsätzlich sehr erfolgreich sind hat, so beschreibt die Berliner Karriereberaterin und Psychotherapeutin Brigitte Scheidt in einem Interview, der im Dezember 2020 in der FAZ online erschien, viel mit falschen Glaubenssätzen und ungelebten Träumen zu tun – und mit der Angst vor einer beruflichen Neuorientierung. Dabei können Kränkungen, mangelnde Aufstiegschancen, zu geringe Wertschätzung vom Arbeitgeber, Über- oder Unterforderung am Arbeitsplatz an unserem persönlichen Wohlbefinden oft viel mehr Schaden anrichten als die Angst vor etwas Neuem. Manchmal muss man einfach gehen. Eine berufliche Neuorientierung ist kein einfacher Schritt, doch mit professioneller, erfahrener Unterstützung auch keine unüberwindbare Hürde.

Manchmal muss man gehen: Die Berliner Psychologin Brigitte Scheidt über lähmende Glaubenssätze, ungelebte Träume und
darüber, wie eine berufliche Neu- und Umorientierung gelingt.

F.A.Z., 19.12.2020, Karrierefrage | Ursula Kals | Ein Theologe von Mitte 40, der sich von seinen Vorgesetzten hart gemaßregelt fühlt, sagt, er fühle sich, als “sei mit dem Rasenmäher über sein Leben gefahren worden”. Das gab letztlich den Ausschlag, nicht nur den Arbeitgeber, sondern den Beruf zu wechseln. Ist so ein Auslöser typisch?

Brigitte Scheidt: Das kann man so sagen. Der Mann ist mit den Strukturen der Organisation aneinandergeraten. Hier geht um Kränkung. Manche Menschen orientieren sich neu, weil sie an Grenzen stoßen, durch ungutes Führungsverhalten, mangelnde Aufstiegsmöglichkeiten, Über- oder Unterforderung und so weiter. Ihr Ausgangspunkt für eine berufliche Neuorientierung ist: So will und kann ich nicht mehr.

Welche Rolle spielt das Thema Kränkung?

Wenn man gehen muss oder das Gefühl hat, man wird nicht gesehen oder sogar rausgedrängt, ist das kränkend. Dies bohrt, greift das Selbstwertgefühl an. Und das – psychologisch gesehen – darf man nicht überspringen. Die Kränkung braucht Raum, die muss man sich angucken, damit sie die Dominanz verliert. Kränkung macht ansonsten krank und kostet Lebensfreude.

Wie genau meinen Sie das?

Im Extremfall bleiben manche Menschen verbittert über Jahrzehnte, da sie nicht loslassen können oder wollen – um den Preis ihrer eigenen Lebensqualität. So weiß ich von einer Unterabteilungsleiterin eines Ministeriums, der nahegelegt wurde, zu gehen. Sie blieb und hat dann jahrelang in einem Zimmer gesessen, ohne Mails, ohne Anrufe. Den Gefallen zu gehen, wollte sie “denen” dennoch nicht tun. Andere wiederum nehmen Gerichtsverfahren durch mehrere Instanzen auf sich. Viele schleppen kränkende Erfahrungen mit sich herum.

Das bedeutet also, Kränkung bindet viel ungute Energie?

So ist es. Immer wieder kehren die gleichen Gedanken zurück: Wie einem das angetan werden konnte, wie man es anders machen könnte. Solche Gedanken werden ventiliert und kosten Kraft.

Viele Menschen denken über einen beruflichen Neuanfang nach, weil ihnen immer bewusster wird, wie endlich ihr Leben ist.

Das ist ein wichtiges Motiv, typisch auch für die Mid-Career-Crisis, die grob so definiert ist: Menschen wird nach einigen Jahren Berufstätigkeit klar, dass das Berufsleben endlich ist. Sie schauen zurück, mit welchen Träumen und Zielen sie angefangen haben. Wenn das Gap und die Unzufriedenheit groß sind, kann es nochmal zu grundsätzlichen Veränderungen kommen. Oft ist ein Treiber die Sinnsuche. Man kann auch erfolgreich sein und unglücklich. Hinzu kommt für viele die Frage: Für was stehe ich? Was ist meine Leidenschaft – im Sinne von “Catch your Dreams”. Was möchte ich in diese Welt reinbringen, was möchte ich hinterlassen, was macht mich glücklich, was zufrieden? Es geht darum zu entdecken, was mir wirklich wichtig ist, womit ich mich ausdrücken möchte.

Wie finde ich das heraus?

Indem ich nach innen schaue, bei mir bin. Was hat mir schon immer Freude gemacht? Was gibt mir Energie, wobei bekomme ich ein Lächeln in die Augen? Welches sinnliche Erleben ist es, das mich so anspringt? Manchmal gehen Leute zu früh ins Außen. Sie schauen in erster Linie, was bietet die Welt an, was erwartet sie? Schnell folgt dann ein, “ja, aber”. Dies unterbindet, dem inneren Impuls überhaupt erst einmal Raum zu geben.

Das scheint nicht so einfach zu sein, eine tragfähige, neue berufliche Identität zu finden?

Wie Sie sagen, es geht um unsere Identität, direkt um uns als Person. Mein Grundhypothese lautet daher: Eine wirkliche berufliche Neuorientierung erfordert neben dem Erlernen von fachlichem Know-how immer auch einen persönlichen Entwicklungsprozess, um eine Aufgabe, Tätigkeit zu (er)finden die einem wirklich entspricht, damit am Ende eine neue berufliche Identität steht. Das ist kein rein linearer Prozess, es ist kein rein intellektueller, allein denken, das funktioniert nicht. Ich sollte herausfinden, wer ich bin, was mich ausmacht und was ich brauche. Um das Eigene zu entdecken und zu leben, braucht es unter anderem Sehnsuchtspflege.

Ein schönes Wort, aber was bedeutet das genau?

Das heißt, zu untersuchen, wann bekomme ich Energie? Wenn ich mich in der Natur aufhalte? Wenn ich ein guter Gastgeber bin? Oder geht es mir wie Dagobert, ich bin dann glücklich, wenn ich in das “Talerbad” springe. Dies sind nur erste Anhaltspunkte. Es geht um das Zusammensetzen von Puzzleteilen. Und darum, immer wieder auszuwerten: Was habe ich getan, was festgestellt, was gespürt?

Der amerikanische Autor Richard Nelson Bolles empfiehlt das Gedankenspiel, zu überlegen, wofür man mitten in der Nacht begeistert aufstehen würde. Was halten Sie davon?

So eine Überlegung kann unterstützend sein. Es ist immer eine Frage des Timings. Es sind die Grundsatzfragen: Bei welchen Themen fühle ich mich richtig lebendig. Wo kickt es mich? Wo hat es etwas, was für mich so sexy ist, dass ich das als einen Teil von meinem Leben sehen möchte?

Bringt es etwas, andere zu fragen, was sie in mir sehen?

Was andere Ihnen zuschreiben ist, so nenne ich das, ist eine kostenlose Marktanalyse. Sie bekommen Projektionen, wie andere Sie sehen. Was assoziieren sie mit Ihnen? Vorausgesetzt, sie gehen nicht einfach davon aus, was Sie gelernt oder studiert haben. Dazu brauchen Sie Leute, die Out of the Box denken können.

Sie haben ein Fünf-Phasenmodell für berufliche Neuorientierung entwickelt.

Ich habe die Phasen nach dem jeweiligen Fokus genannt: Trennungs-, Öffnungs-, Such-, Findungs- und Zielphase. In jeder Phase gibt es Aufgaben, die zu bewältigen sind. Wenn nicht, dann ist der Prozess blockiert. Blockaden helfen zu verstehen, was fehlt, womit man sich beschäftigen sollte. In der Trennungsphase, geht es unter anderem darum, Abschied zu nehmen, loszulassen, anzuerkennen, dass ich nicht mehr hilfreich sein kann. Wenn ich jedoch nicht loslassen kann, weil ich noch mit einer Kränkung beschäftigt bin, dann komme ich einfach nicht voran. In der Öffnungsphase schaue ich unter anderem neu und neugierig um mich herum, lasse mich inspirieren. Mein Augenmerk ist hier darauf gerichtet, was gibt mir Energie? Was macht mir Spaß? Wenn ich mich jedoch ständig antreibe oder bewerte, dann trete ich in meinem Prozess vermutlich auf der Stelle. Analoges gilt für die anderen Phasen. Es braucht eben einen Entwicklungsprozess, in dem ich mich von Vertrautem verabschieden muss, um Neues zuzulassen.

Mehr über das Fünf-Phasen-Modell …

Das erfordert offenbar, sich von alten Glaubenssätzen zu verabschieden.

Das prägt uns mehr, als vielen bewusst ist. Komme ich aus einer Familie, wo kreativ sein mit brotlos sein verbunden wird oder aus einem Umfeld, wo das Thema, Geld zu verdienen mit böser Kapitalist sein belegt ist, bedeutet das für mich jeweils ein Denkverbot. Zwei Beispiele aus zwei Welten. Wann immer “das darfst du nicht” greift, kann ich mich nicht richtig damit beschäftigen.

Es geht also auch um das Thema, diese Freiheit zu gewinnen.

Damit ich meinen eigenen beruflichen Weg gehen kann, muss ich wissen, wer ich bin, herausfinden was ich möchte, mich damit identifizieren, es für mich für möglich halten und gegenüber relevanten Dritten vertreten, auch wenn diese es nicht gut finden. In diesem Entwicklungsprozess geht es also auch darum, zu lernen zu sich und seinen Wünschen stehen zu können. Im Laufe des Prozesses erlangt man immer mehr innere Freiheit gerade auch von der Meinung Anderer.

Das ist sicherlich nicht einfach?

Ja, aber es lohnt sich. Wir bringen uns selbst mit, mit unseren Mustern, unseren Delegationen und unseren Blockaden. Ein Beispiel: Alle in unserer Familie sind Apotheker, ob gerne oder nicht ist zweitrangig. Darf ich diejenige sein, die das durchbricht? Wenn ich mein Selbstwertgefühl gestärkt und diese innere Freiheit gewonnen habe, mir treu zu sein, kann ich wählen. Es kann sogar sein, dass ich herausfinde, dass ich das, was ich tue, in dieser Form weitermachen möchte. Dann habe ich es aber nochmal gewählt und muss es nicht tun oder aushalten.

Was machen die von Natur aus Ängstlichen? Werden sie durch Corona noch stärker ausgebremst?

Das kann sein. Es gibt diejenigen, die aushalten. Zu denen sage ich: Gehe nur das Risiko ein, das zu dir passt. Aber Achtung, wenn die Situation dich krank macht, wenn du schon abends denkst, oh Gott, morgen muss ich wieder dahin. Dann geht es um Gesundheit und Leben! Und auch eher Ängstliche können sehr zielstrebig und initiativ werden, wenn sie das Ihre gefunden haben, mit dem sie sich identifizieren.

Was tun, wenn die Antriebslosigkeit dominiert?

Untersuchen: Schauen, was macht mich lustlos? Hat es was mit der Arbeit zu tun? Oder ist es eher privat? Wenn Arbeit: Ist es der Chef, die Kollegen, der Inhalt? Was brauche ich, um wieder zu Kräften zu kommen? Also prüfen und sich ernst und wichtig nehmen. Vielleicht gibt es jemanden, mit dem ich die Fragen durchsprechen kann? Und weiter klären anhand der Formel “Love it”, kann ich mich arrangieren, für wie lange? “Change it”, kann ich umsteuern? Möchte ich das? Leave it? Wenn beides nicht geht, dann sollte man möglichst bald einen Wechsel in Betracht ziehen. Bedenken Sie immer, alles hat seinen Preis.

Manchmal zwingt eine von außen gesetzte Krise, durch Corona, Krankheit, Arbeitslosigkeit, Scheidung, zum Umschwenken. Was hilft, das zu meistern?

Einige Punkte aus Sicht der Resilienz aber auch aus meiner Erfahrung. Es kann ein Anker sein, wenn ich schon einmal eine Krise positiv bewältigt habe beziehungsweise auch positive Vorbilder helfen. Familie und Freunde, auf die ich zählen kann, aber auch finanzielle Ressourcen sind nicht zu verachten. Als Person ist es von Vorteil, wenn ich die Fähigkeit habe, das Positive zu sehen, einen Grundoptimismus. Kann ich mich von bestimmten Selbstverständlichkeiten verabschieden? Ich hatte zum Beispiel immer einen Job, jetzt habe ich ihn verloren. Wie weit kann ich das, was passiert ist, annehmen? Das Gefühl von Selbstwirksamkeit trotz des Einschnitts unterstützt die eigene Handlungsfähigkeit.

Gerade jetzt, wo so viele Menschen existentiell durch Corona gebeutelt sind, kann man die Unterschiede sehen. Und sich auf so eine neue Situation einzulassen, ist schwer. Krisen sind aber auch Herausforderungen. Sie sind es, in denen wir als Person wachsen, ja reifen können, weil für die Bewältigung Neues Platz nehmen muss.

Glauben Sie, dass man Resilienz lernen kann?

Man kann neue Bewältigungsstrategien lernen. Es bedarf eines inneren Lernprozesses bevor neues Verhalten wirklich internalisiert, also Teil von mir wird. Resilienz ist etwas, das vor allem in der Kindheit geprägt wird. Es gibt Leute, die haben Glaubenssätze, wie: Was auch immer passiert, ich werde nicht untergehen. Die Welt wird einen Platz für mich haben. Andere haben das Gegenteil. Letztere können lernen, ein Zutrauen in sich und die Welt zu gewinnen. Es geht um Selbstwirksamkeit. Ich habe Handlungsmöglichkeiten, bin nicht allein Opfer, kann mir Hilfe organisieren. Meine Mutter sagte immer: “Wer weiß, wofür es gut ist”. Zu unterscheiden, das zu akzeptieren, was ich nicht verändern kann – ohne dauernd zu hadern – und zu schauen, was kann ich verändern und das zu tun. Das scheint mir ein guter Weg.

Die Fragen stellte Ursula Kals.

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Erschienen in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung am 19.12.2020. Von Ursula Krals. faz.net
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Bild von geralt | pixabay.de

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