Wie überstehen stille Menschen die Krise?

F.A.Z., 06.06.2020, Beruf und Chance, Seite C2 | Ursula Kals

DIE KARRIEREFRAGE

Introvertierte liefern gute Leistungen ab, wenn sie Rückzugsräume haben. Im Corona-Zeiten herrscht viel verordneter Rückzug. Aber davon profitieren können die Ruhigen und Stillen nicht unbedingt.

Ein Drittel der Menschen in westlichen Ländern gilt als introvertiert. Sie laufen zur Höchstform auf, wenn man sie in Ruhe arbeiten lässt. Die anderen zwei Drittel gelten als energiegeladene Extrovertierte, die das Berufsleben als Bühne nutzen, um ihre Lebendigkeit auszuleben. Geprägt hat der Psychoanalytiker C. G. Jung die Begriffe Introversion und Extraversion als Teil der Persönlichkeit. Wie kommen zurückhaltende Menschen durch diese Zeit, in der es kaum noch persönliche Treffen gibt? In der sie in digitalen Konferenzen auf einer Videokachel glänzen sollen? Sind sie nicht zwangsläufig die als Eigenbrötler etikettierten Verlierer, die jetzt noch weniger gesehen werden, sich durch die verordnete Distanz noch mehr verpanzern?

Sylvia Löhken, die das Thema der “unterschätzten Intros” durch Bücher und Vorträge einer breiten Öffentlichkeit eröffnet hat, sieht das nicht so düster: “Für Introvertierte ist diese Zeit eine Chance, weil solide Arbeit zählt, sie gut allein arbeiten und rasch überstimuliert sind. Schwierig ist das für Extrovertierte, sie haben wenig Resonanz.” Die Bonner Sprachwissenschaftlerin erklärt aber auch: “Andererseits haben wir Introvertierten ein empfindliches Sicherheitszentrum im Gehirn, fühlen uns relativ leicht verunsichert, sind begnadete Sorgenmacherinnen und Sorgenmacher, das ist neurobiologisch nachweisbar. Wir leben wirtschaftlich und gesundheitlich in einer Krise. Das ist eine Gleichung mit vielen Unbekannten und für Introvertierte doppelt belastend.”

Alle, die Stillen wie die Lauten, mussten sich in der Corona-Zeit quasi von heute auf morgen neu positionieren. Zum Beispiel in ungewohnten Videokonferenzen. Mit dem Liebsten im Wackelkontakt zu stehen und nach Braunschweig zu skypen ist das eine. Etwas anderes ist es, sich in einer Video-Großgruppe unter selbstbewussten bis selbstherrlichen Alphamännchen und -weibchen zu behaupten. Da müssten doch eindeutig die Extrovertierten die Nase vorn haben? Die Berliner Psychologin und Karriereberaterin Brigitte Scheidt sieht es differenzierter. Sie findet, dass Videokonferenzen keinesfalls nur negativ für Introvertierte seien: “Die starke Fokussierung, schnelle Konzentration auf die Fakten, das macht es einfacher, gleich und ohne Schnörkel in medias res zu gehen. Vielen eher Introvertierten kommt das entgegen, denn sie sagen meist nur etwas, wenn sie etwas zu sagen haben, anstatt Gesagtes zu wiederholen.” Zwar bevorzugten manche eher das Telefon, das biete “mehr Privatheit”, aber eben nicht alle. “Für die, die wenig aus sich herauskommen, ist die Ansprache wichtig. Das gilt aber auch für schüchterne Extrovertierte”, sagt die Psychologin. “Nicht alle Introvertierten sind schüchtern und still, es gibt viele Differenzierungen.”

Sylvia Löhken arbeitet als Coach. Eines ihrer zentralen Anliegen: Introvertierte sollten nicht darauf vertrauen, dass ihre Leistung für sich spricht. Auch wenn ihnen Trommeln nicht liegt, müssen sie für Sichtbarkeit sorgen und unternehmensinterne Kanäle nutzen. Dort lasse sich etwa beobachten, wie sich andere vermarkten. Sie können sich überlegen, mit wem sich sinnvoll chatten lässt und wie sie eins zu eins kommunizieren können. “Einmal in der Woche können sie den Vorgesetzten explizit informieren, ihm ein PDF schicken: Was habe ich in dieser Woche getan, was ist mir gelungen, wo brauche ich Hilfe?”, schlägt Löhken vor.

Ob stille Menschen gut durch diese Zeit kommen, daran haben auch Chefs ihren Anteil. Kluge Führungskräfte bremsen die Lauten aus und eröffnen Stillen den Raum. Sinnvoll ist es, das auch schriftlich zu tun, indem sie vor einer Besprechung Statements einfordern – da haben Introvertierte die Nase vorn, schriftliche Schaumschlägereien sind rascher entlarvt als mündliche. In einem Blogbeitrag des Personaldienstleisters Robert Half heißt es: “Ein Nachteil von Online-Konferenzen: Diskussionen lassen sich schwer kontrollieren und können chaotisch werden.” Deshalb brauche es “einen besonnenen, durchsetzungsfähigen Moderator. Er muss die gesamte Debatte dirigieren.” Man möchte ergänzen: und den ruhigeren Zeitgenossen ausdrücklich das Wort erteilen. “Ich merke das in meinen Online-Veranstaltungen. Einige ergreifen das Wort, weil sie das ohnehin gerne haben. Dann ist eine straffere Moderation gefragt, ich gehe zum Beispiel alphabetisch vor, so dass jeder ein Statement abgibt”, berichtet Sylvia Löhken. “Manchmal ist es eine Notwendigkeit, im Einzelgespräch nachzufragen: Wie geht es dir, kann ich etwas tun?”, bestätigt der Frankfurter Unternehmensberater Karsten Drath, der Teams und Topmanager betreut. “Auch unter diesen Führungskräften gibt es Introvertierte. Kompetenz ist nicht deckungsgleich mit Verhaltenspräferenz. So kann ein introvertierter Mensch ein hervorragender Redner sein.”

Auch Extrovertierte tun sich gerade schwer

Denn die Stillen haben viel zu sagen – darin sind sich die Fachleute einig. Spätestens seit Susan Cain, ehemalige Wall-Street-Juristin, mit ihrem Bestseller “Still. Die Bedeutung von Introvertierten in einer lauten Welt” aufgeschrieben hat, dass ohne diese Menschen weder die Radioaktivität entdeckt worden noch Google entstanden wäre. Konzentration, analytisches Denken, beharrliches Handeln, das sind Eigenschaften, die Introvertierten zugeschrieben werden. Nur logisch, dass viele Ingenieure, Ärzte, Techniker, handwerkliche Fachkräfte werden oder in die Wissenschaft streben und dort Herausragendes leisten. Bestes Beispiel in der Pandemie sind die Virologen, die oft intrinsisch motiviert sind, aber mit ihrer unfreiwilligen Rolle in der Mediengesellschaft fremdeln und sich unseriöser Zuspitzung nur gequält erwehren. Einige unter ihnen sitzen trotzdem tapfer in Talkshows.

Ganz anders Extrovertierte, die das Interesse an ihrer Person zu schätzen wissen. Doch ihnen gelingt nicht automatisch die neue, virtuelle Kommunikation. Die Redezeit in Online-Besprechungen ist begrenzter und in Videokonferenzen nerven Dauerredner noch mehr. Dabei brauchen Extrovertierte Außenimpulse, lieben den Schwatz in der Teeküche und entwickeln in munteren Diskussionen Ideen. Aktuell gereicht ihnen das im Homeoffice zum Nachteil. Anders die Introvertierten. “Ich erlebe, dass ein großer Teil von ihnen den Freiraum, den ein Homeoffice gibt, gut nutzen kann. Der soziale Mitmachdruck ist geringer.” Die Frage, an einem Feierabendbier teilzunehmen, stellt sich nicht wirklich. Auch ungeliebte Kundenkontakte sind dezimiert. Und die Noise-Cancelling-Kopfhörer können beiseitegelegt werden.

Ein höheres Maß an Selbstbestimmung

Besteht dann nicht die Gefahr, sich zu isolieren? Brigitte Scheidt verneint das. “Ich glaube, ein Großteil empfindet das nicht als Verlust, sondern findet es eher gut, ausgewählte Kontakte zu haben. Introvertierte leben ja nicht automatisch ganz zurückgezogen. Die meisten pflegen in der Regel stabile und intensive Kontakte, nur nicht so viele. Natürlich wird es auch Leute geben, die sich isolieren.” Sylvia Löhken rät auch hier, sich einen Plan zu machen. “Da ich die anderen nicht mehr per Autopilot in der Kantine treffe, kann ich eine Liste mit Menschen erstellen, die mir am Herzen liegen, und mit ihnen gezielt per Skype oder Zoom in Kontakt sein und mich zu einer virtuellen Kaffeepause verabreden.” So sieht es auch Karsten Drath: “Introvertierte brauchen die anderen in einer anderen Dosierung, eher einzeln, nicht in Gruppensettings.”

Karriereberaterin Brigitte Scheidt nennt noch einen wichtigen Punkt. “Homeoffice bietet ein höheres Maß an Selbstbestimmung, das ist etwas, was bei vielen eher Introvertierten auf der Habenseite landet.” Was hingegen auf der negativen Seite landet, sei die Wuselei der Familie. “Dass die Kinder, der Partner permanent zu Hause sind, sie ständig sozialen Kontakt haben, das erleben viele Introvertierte als besonders anstrengend. Ich kenne Leute, die weichen aus und gehen zwischendurch zum Arbeiten ins Hotel, nur um die Möglichkeit zu haben, mit sich und für sich zu sein.” Ihr Tipp: “Introvertierte sollten auf ihren Energiehaushalt achten, indem sie Rückzugsmöglichkeiten schaffen.” Das Zusammensein mit Menschen kostet sie Energie, den Extros gibt es Energie.

Seelisch, so erlebt es Brigitte Scheidt, komme ein großer Teil der Introvertierten aktuell gut zurecht. “In der Regel sind das Leute, die sich gut informieren, viel nachlesen, recherchieren. Der Drosten-Podcast dürfte einen großen Anteil an eher introvertierten Zuhörern haben. Sie machen sich sachkundig, gehen in die Tiefe. Das ist bei vielen eine Haltung, fundiert verstehen zu wollen, was in ihrer Welt geschieht.” Sicher sei auch ein Teil darunter, der besorgt und ängstlich sei und die Tendenz habe, zu sehen, wo sich Schwierigkeiten ergeben. Der Hang vieler Introvertierter, möglichst alles perfekt zu machen, sei in diesen Umbruchzeiten jedenfalls uneinlösbar. Umso wichtiger sei es, dass Unternehmen eine Fehlerkultur etablieren. “Wir sind in einem Prozess von Versuch und Irrtum und hochgradiger Agilität.”

Teams gewännen durch unterschiedlichen Sichtweisen, glaubt auch der Berater Karsten Drath. “Davon profitiert eine Firmenkultur.” In der Konsumgüterbranche etwa seien häufig Schnelligkeit und ein Hang zur Oberflächlichkeit wichtig, man brauche aber auch die Denker und Tiefgründigen. Die Stillen und die Lauten könnten sich ergänzen und voneinander lernen. Für die Extrovertierten ist der direkte Kontakt der Weg, für die Introvertierten der indirekte. Brigitte Scheidt fasst zusammen: “Der eher Extrovertierte denkt: ,Der ist doch im Nachbarzimmer, warum schreibt der mir ‘ne Mail und kommt nicht rüber?'” Zumindest dieses Missverständnis hat sich zurzeit fast erledigt.

© Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt. Zur Verfügung gestellt vom Frankfurter Allgemeine Archiv

Foto: © Jacky Chiu / unsplash.com