Beschleunigte Arbeitswelt trifft auf menschlichen Faktor – Oder wie mitkommen?

DGFK | Karriere Spot | 09/2019 | Die Arbeitswelt verändert sich rasant schnell. Das Konzept der Agilität ist in Organisationen aller Munde, selten wird es wirklich gelebt. Die Autorin skizziert, was eigentlich heißt eine agile Führungskraft zu sein und das dies etwas mit Reife zu tun hat. Die Organisationen stehen vor der Aufgabe Menschen zu entwickeln, damit sie ihren Platz im Rahmen der Veränderung finden können.

Beschleunigte Arbeitswelt trifft auf menschlichen Faktor – Oder wie mitkommen?

Veränderung allerorten, neue Verteilungskämpfe finden statt. Wir lesen es in den Zeitungen und in den Medien. Wir befinden uns in einem fühlbaren Wandel, politisch wie gesellschaftlich. Dies gilt auch und gerade für die Arbeitswelt. Disruption und Wandel sind die Schlagworte und Agilität mit scrum, design thinking u.a. lauten mögliche Antworten. Der Druck der Unternehmen landet natürlich auch bei Führungskräften und Mitarbeiter*innen.
Verbunden damit ist häufig das Gefühl von Entwertung von vorhandenem Wissen, erworbenen Fähigkeiten und Können. Wieder etwas Neues! Die davon betroffenen Tätigen müssen sich mit verändern und sich anpassen. Leichter gesagt als getan. Vielleicht kennen Sie das?

Die große Verunsicherung in den Unternehmen

In den meisten etablierten Unternehmen herrscht eine große allgemeine Verunsicherung.
Gerade angesichts der Digitalisierung kann keine Branche sicher sein, dass nicht irgendwo auf der Welt etwas Neues entsteht – sei es ein Produkt, eine Dienstleistung oder ein Prozess – das nicht das eigene Bestehende in Frage stellt. Dies macht Druck. Dies macht Sorge, gerade auch Führungskräften, die falsche Entscheidung zu treffen, zu spät oder zu früh zu sein. Neue Player, die content für den user zur Verfügung stellen, ohne selbst etwas zu schaffen, KI, neuartige Robotersysteme, Mensch Maschine verschmelzen schon oder noch nicht, Virtualität / Realität, was ist was? Welche Gesetze gelten, welche Moral wird sich durchsetzen u.v.m. Mit all diesen Fragen werden die Unsicherheiten immer größer. Vor dieser Erfahrung schützen keine Studienabschlüsse, keine Funktion und keine Rolle. Unternehmen reagieren unterschiedlich auf diese Herausforderungen. Meine Klient*innen schildern ihre Unternehmen so oder ähnlich. Da sind diejenigen, die:

  • Change und Disruption als Treiber und Chance für Innovation und eigene Marktchancen verstehen. Manche sehen zusätzlich auch die Gelegenheit neue Arbeitsformen und ein anderes Verständnis von Führung einzuführen und auszuprobieren. So gibt es Firmen, in denen die Führung von den Mitarbeitern gewählt und abgewählt wird. (Beispiel)
  • Zwischen Abwarten und Aktionismus hin und herpendeln. Flüchten oder standhalten. Wir müssen schneller werden aber wie und doch bitte nicht. Aber das Label agil muss her. Eher aktionistisch werden vermeintliche oder projezierte Erwartungen angerissen bzw. teilweise umgesetzt, um dann wieder ausgesetzt zu werden. Dies trifft noch auf einen Großteil des Mittelstands zu, aber auch auf manchen Großkonzern.
  • durch den Einkauf und Zukauf von start-ups und Gründern hoffen Unternehmen am Zeitgeist zu bleiben. Einige gründen sogar eigene Start-ups im Unternehmen. Insbesondere Banken und andere große Organisationen versuchen diesen Weg zu gehen. Allerdings scheint es dort häufig Schwierigkeiten mit den Kulturen zu geben.
  • und vermutlich alles dazwischen.

Was wie läuft, hat natürlich auch mit den handelnden Personen zu tun.

Ziel meiner Ausführungen ist nicht die Suche nach best practice, sondern was müssen Menschen wirklich können bzw. mitbringen, um solche Situationen des Umbruchs zu gestalten? Agiles Handeln bedingt Veränderungen zu akzeptieren, möglichst schneller als andere innovative Antworten zu finden, als Organisation zu lernen und das Wissen allen relevanten Personen/ Beteiligten zur Verfügung zu stellen und sie mitzunehmen.
Für Führungskräfte bedeutet agil zu sein, das unternehmerische Denken in Verbindung mit Kundenorientierung zu verkörpern, die inhaltliche Kompetenz wie auch wichtige Entscheidungen den dafür zuständigen Teams und Projektgruppen zu überlassen. Als Führungskraft den Rahmen zu bieten und durch Vorbild, nicht durch Macht zu führen. Weiterhin heißt das den Mitarbeitern auf Augenhöhe zu begegnen und sie zu fördern. Puh!!!

Runtergebrochen bedeutet dies, agile Führungskräfte sind Personen, die über ein hohes Maß an Selbstreflexion verfügen, proaktiv sein können, in der Lage sind out-of-the-box zu denken, in dem sie unterschiedliche Positionen und Belange möglichst multiperspektivisch einbeziehen. Sie können ihre Rolle im alten Sinne loslassen und sind in der Lage auf die Fähigkeiten anderer zu bauen. Ihre Eitelkeiten haben sie weitgehend im Griff. Feedback zu erhalten, erleben sie als Möglichkeit sich selbst zu entwickeln, feed-back zu geben als konstruktives Führungsinstrument, um passend bezogen auf das Gegenüber förderlich zu sein. Sie sind in der Lage (selektiv) authentisch zu führen und sich als Person einzubringen. Ihr Ziel ist es, das Richtige zu tun und nicht, es recht zu machen. Sie können Grenzen setzen für sich und ihre Mitarbeiter*innen. Kurz und gut wir sprechen über Aspekte persönlicher Reife.

Ist diese Reife in allen Unternehmen erwünscht?

Ich glaube nicht, dass alle Organisationen schon dafür wirklich bereit sind, denn es bedeutet, dass die Kultur der Organisation dieses Herangehen wirklich begünstigt. An vielen Orten wird jedoch Agilität (Veränderung) gepredigt ohne den Preis, der da u.a. heißt, Abgabe von Kompetenzen und Macht auf Führungsebenen, wirklich zahlen zu wollen, vielleicht auch aufgrund der handelnden Personen, dies nicht zu können. Auch auf den Leitungsebenen ist diese Qualität von Agilität und Reife noch nicht überall angekommen und möglich. Allerdings bin ich überzeugt, dass Organisationen, die diesen Kulturwandel vollziehen, wandlungs- und überlebensfähiger sein werden.

Kann man Reife lernen?

Nein, man kann sie nicht im klassischen Sinne lernen. Das gute ist, man kann sie entwickeln. Wir sprechen von einem weiter und flexibler werden im Prozess. Dies bedeutet sich mit sich selbst mutig zu konfrontieren. Man nennt dies sich selbst mit seinen Möglichkeiten und Unmöglichkeiten zu erfahren (Selbsterfahrung). Denn nur was mir bewusst ist, kann ich betrachten und ggf. verändern.

Veränderungen machen immer auch Angst und können Widerstand hervorrufen

Diese Verunsicherungen treffen Mitarbeiter*innen auf allen Ebenen. Die Art zu arbeiten hat sich schon für viele geändert Die Nine-to-five-jobs und feste Arbeitsorte nehmen ab. Stattdessen gibt es Homeoffice, wechselnde Schreibtische, immer weniger feste Arbeits- wie Organisationsstrukturen. Teams arbeiten vielfach virtuell zusammen. Für die Teammitglieder bedeutet dies: andere Länder, andere Zeiten, andere kulturelle Gepflogenheiten. Interkulturelle Kompetenz wird gefordert, gilt als ein Erfolgsfaktor, Diversity öffnet neue Perspektiven – und das alles kann auch anstrengend sein. Denn auf die vielfachen Veränderungen sind nicht wirklich viele vorbereitet bzw. man zahlt für alles einen Preis. Insgesamt wird erwartet, dass Menschen sich entsprechend verhalten und mitkommen und die Anforderungen schneller, flexibler, höhere Eigenverantwortung, positiver Umgang mit Kritik und Einwänden und flachen Hierarchien erfüllen. Nicht wenige, die den Ansagen von Agilität geglaubt haben, wurden eines Besseren belehrt und richten sich in Zynismus und innerer Emigration ein.

Wer kommt mit?

Klingt doch auch gut. Agil sein, weniger Bürokratie und dann braucht es noch ein agiles mindset und dann sind wir gut gerüstet. Könnte stimmen, nur:
Und was ist mit denen, die ein stabiles Team und gutes Betriebsklima brauchen, um gut zu arbeiten? Was ist mit denen, die sich in Ihrer Identität bedroht fühlen, denn die Art ihrer Tätigkeit für die man vor einem Jahr noch hoch gelobt wurde ist nicht mehr gefragt, die erworbene Position gilt nichts mehr? Wichtige Prozesse, Planungen auf Monate voraus, passen nicht mehr. Was mit denen, für die Feedback-Schleifen eine Bedrohung sind, was mit denen, die als Führungskräfte von Ihrer Macht abgeben sollen und ein neues Rollenverständnis aufbauen sollen, was mit denen, die (noch) Rückmeldungen und Absicherungen brauchen? Was mit denen, die Zeit brauchen, um sich an neue Situationen, an neue Menschen usw. zu gewöhnen? Und wir sprechen auch hier von gut ausgebildeten Personen, häufig auch engagierten Mitarbeiter*innen und Führungskräften.

Neues Lernen braucht es

Diese geforderten Veränderungen erfordern nicht neues Lernen im Sinne von Tools, sondern persönliche Veränderungen im Sinne von Entwicklung.
Wenn Menschen das Gefühl haben, sie werden nicht mitgenommen, ihre Leistungen werden nicht gesehen, sie fühlen sich abgewertet, sie werden fremd bestimmt, dann ist offener oder passiver Widerstand nur zu normal, denn dies erhält psychologisch gesehen die Autonomie und Selbstachtung. Anderenfalls sind Kränkung und Resignation die Antworten, Die emotionalen Kosten für den einzelnen aber auch die materiellen Kosten für Unternehmen wie Gesellschaft sind hoch.

Insofern gilt es, dass Organisationen Geld in die Hand nehmen und den notwendigen Kulturwandel ermöglichen durch Unterstützung des Empowerment des Einzelnen zugunsten der Wandelfähigkeit des gesamten Unternehmens.

Über die Autorin:
Brigitte Scheidt, Karrierecoach, Psychologin und Psychologische Psychotherapeutin begleitet Menschen bei beruflicher Um-und Neuorientierung (Buch Neue Wege im Berufsleben). Personen zu entwickeln, Menschen zu befähigen, ihren eigenen Weg zu gehen, ist ihr ein Anliegen. Sie ist Mitglied in der Deutschen Gesellschaft für Karriereberatung (DGfK).

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